Ich schaue auf eine weiße Wand. An meiner Kleiderstange hängen Bügel ohne Klamotten, überall stehen Umzugskartons, auf dem Boden liegen so viele Stapel mit Zeug, dass ich kaum noch treten kann. Ich stopfe Vorlesungsmitschriften und Modeschmuck, Nagellackfläschchen und Eintrittskarten in Müllsäcke. Es riecht nach Plastik und Erinnerungen. Mein Messie-Herz blutet, Marie Kondo wäre stolz auf mich.
Es gibt hunderte Texte über Abschied und Veränderung. Wir könnten Abschiedstexte-Bingo spielen, oh yes. Erfahrungen überschneiden sich, das Gefühl von Lebenswandel ist so allbekannt wie schmerzhaft. Mit Dankbarkeit sollte man nicht um sich werfen, die Gefahr der Floskelitis ist riesig. Dankbarkeit verdient Raum und Adressat*innen und sollte dort abgeladen werden, wo sie hingehört. Während ich jeden Fetzen meiner letzten vier Jahre in den Händen halte und zwischen dem ‚Ja-Nein-Vielleicht‘ Stapel wähle, spüre ich Dankbarkeit, die sich fast wie Demut anfühlt. Wir sind zum Gehen gemacht, nicht zum Bleiben, denke ich. Meine Komfortzone weint.
Und dann?
In weniger als einer Woche geht es für mich mit dem Zug nach Sankt Jean Piet de Port, wo ich meine Pilgerreise starten werde. Als ich mit der Planung angefangen habe, hat sich das alles leichter angehört, als es sich jetzt anfühlt. Jeden Tag zwischen 20 und 35 Kilometer wandern, Zeit für mich selbst, Natur, toll. Ich habe mir selbst zugenickt, beim Reiseführer bestellen, beim Wanderschuhe kaufen, beim Erzählen von meinem Vorhaben. Ich sehe mich braungebrannt in der spanischen Sonne durch die Sierra tapsen. Die begeisternde Zustimmung meines sozialen Umfeldes und die Deadline für meine Bachelorarbeit haben mich meine Ängste und Sorgen bis vor Kurzem vergessen lassen. Beim Umzugskistenpacken hat man sehr viel Zeit nachzudenken. Ich checke täglich den Wetterbericht aus Pamplona. Es regnet seit über eine Woche durchgehend. Meine Wettermentalität ist Zucker. Ich höre die Musik meines Nachbars leise durch die Zimmerwand. Ich kneife die Augen zusammen und stöhne innerlich. Ich bin so geräuschempfindlich, dass ich immer mit Oropax schlafe. Generell bin ich sehr empfindlich. Eher Mimose als Löwin. Ich denke an Schlafsäle und wochenlang getragene Wanderschuhe unter Feldbetten. Ich denke an Bettwanzen und Krätze und Läuse und Flöhe. Der pessimistische Teil in mir, der mit zugeklebtem Mund im Verborgenen lebt und immer vom Schlimmsten ausgeht, schreit mich an. Ich denke an meine Eitelkeit im Hipster-Mantel und an fünf Kilo Maximalgewicht in meinem 30-Liter-Rucksack. An eiternde Blasen an den Füßen und an einsame eiskalte Nächte in den Pyrenäen. Unterdrückte Unsicherheit bahnt sich ihren Weg, meine Gefühlsagenda brodelt, mir ist heiß und kalt, mein Gefühlschaos ist Mordors Eiszeit. Ich fühle mich emotional überrollt, während ich zwischen meinen Kisten sitze und jede Erinnerung fünf Mal umdrehe. Warum mache ich das eigentlich? Ich schüttele den Kopf und werde sehr wütend. Hast du nicht langsam genug Grenzen getestet, frage ich mein Spiegelbild. Ich sehe so angestrengt aus, wie ich mich fühle. Ich merke, dass ich nicht mehr 18 bin, aber der Plan vom Leben, der mit Anfang 20 gedacht war, über mich zu kommen, scheint festzuhängen. Er hängt fest in einem Terrarium aus möglichkeitsschwangerer Großstadtenergie und meiner persönlichen Auseinandersetzung mit Glück und Freiheit. Ich reiße Fotos und Karten von meiner Tür. Nasenspray und Brandsalbe sind 2017 abgelaufen, der Nein-Stapel ist riesig.
Eine Retrospektive meiner letzten vier Jahre verfehlt das, was ich ausdrücken will. Ich möchte nicht über meine neuen Freundschaften schreiben oder meine Unilaufbahn, über mein Landgemüt in der Großstadt, über Wohnungsnot und Gentrifizierung, Feminismus oder Monogamie. Kein Wörterbuch dieser Welt, keine Aneinanderreihung aller Superlative sämtlicher romanischer Sprachen könnte ausdrücken, was ich fühle, wenn ich an meine Zeit in Berlin denke. Meine letzten vier Jahre waren so intensiv und bunt und so pechschwarz wie pur-weiß, dass mein Wortschatz mir zu begrenzt scheint um nachzuzeichnen, was Berlin mit mir gemacht hat.
Berlin und ich, ein Feuerwerk aus Emotionen, Begegnungen, Grenzerfahrungen und Lebenswelten.
Ich habe mich hier oft verloren, bin in Lebensrealitäten abgetaucht, habe meinen Wertekompass verschieben lassen und meinen Platz gewechselt. Das Gefühl, nicht zu wissen, wo ich hingehöre und wer ich bin hat mich begleitet, wie Hunger und Schlafmangel. Überforderung und Orientierungslosigkeit haben meine persönlichen Grenzen gezeichnet. Grenzerfahrungen haben Werte und Normen ausgebildet und ich frage mich immer wieder neu, was für eine Art Mensch ich sein und wie ich leben möchte. Lebensentwürfe werden serviert wie Falafel, kräuter-scharf. An jeder Ecke anders. ‚Berlin hustles harder‘, steht auf einer Postkarte, die noch an meiner Tür hängt. Stimmt. Berlin polarisiert nicht, Berlin läuft über. Berlin schreit nicht, Berlin kotzt chronisch.
Gestern hatte ich meine letzte Schicht in dem Cafe, in dem ich seit fast vier Jahren arbeite. Ich verabschiede mich von Stammgästen und Bekannten – es fühlt sich taub an, nicht zu wissen, ob man sich jemals wiedersieht. Mit meinen engsten Freundinnen sind die Abschiede leichter. Es sind keine Abschiede, wir teilen genug und lieben uns irgendwie bedingungslos, dass es egal ist, ob wir uns morgen sehen, oder drei Monate oder zwei Jahre nicht. Mein soziales Umfeld ist eine Wildblumenwiese, die jeden künstlich angelegten botanischen Garten überstrahlt. Ich wusste nicht, dass man so viel Stärke und Zuversicht, Mut und Sicherheit aus dem Gefühl schöpfen kann, geliebt zu werden. Es fühlt sich an, als ob das letztendlich alles ist, was zählt. Es verwandelt stagnative Angst in neugierigen Mut und gibt mir das Gefühl, zu Hause zu sein, egal wo ich bin. Ich habe für mich herausgefunden, dass Ankommen kein Ort ist, sondern ein Gefühl, dass mich mein Umfeld aus mir selbst schöpfen lässt. Für immer fühlt sich mit euch immer noch zu kurz an.
Schwarz zu Blau
Noch ein paar letzte Worte, die mir zu der Stadt einfallen, die sich in meinem Text romantisiert-verklärt lesen kann. Es ist utopisch zu glauben, dass man nach Berlin kommt und sich verändert. Als würde man genesen, wenn man die Schwelle des Hausarztes übertritt oder sterben, wenn man Yoghurt nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum isst. Berlin kann auch weich sein und nicht herausfordernd. Reich und unsexy, spießig und ignorant. Auch hier wählen Menschen die AfD und zünden Obdachlose an. Es scheint mir, als könnte sich jede*r selbst und immer wieder neu entscheiden, was er oder sie von der Stadt erwartet. In Berlin kann jede*r alles sein. Segen und Fluch, Falltür und Sprungbrett, Snape und Voldemort. Ich konnte mich sehr gut treiben lassen und Luft schnuppern, von der ich bis vor einigen Monaten nicht wusste, dass sie existiert. Ist das die Luft, die du zum Atmen brauchst, Peter? Der Grat zwischen Schwerelosigkeit und Schwermut ist schmal. Schweben vergiftet, wenn man niemals landen kann. Ich treibe heute langsamer, aber ich treibe noch immer. Ankommen fällt mir schwer. Während ich das schreibe spüre ich, dass es für mich unvorstellbar ist, in einer anderen deutschen Stadt zu leben.
Ich hoffe ich habe das Dankbarkeits-Bingo nicht komplett ausgereizt: Ich bin tief dankbar, dass Berlin mich gelehrt hat, was es heißt, zu leben. Dass man nur mit dem Herzen gut sieht und dass Träume da sind, um erfüllt zu werden. Wenn sich Abschied so anfühlt, dann ist es weniger schlimm, als erwartet, weil die Dauer von 'Für Immer' von jedem selbst bestimmt wird.
Foto: Unsplash
Lynn
Viel Erfolg dabei und spannende Begegnungen, mit dir selbst als auch mit Gleichgesinnten!
Anonymous
Isa
Chrissi
Ich denk an dich