Alltag im Camp.
Während ich das schreibe sollte ich eigentlich woanders sein. Meine Hände sollten in Arbeitshandschuhen stecken, ich sollte Holz sammeln, auf dem Camp-Sperrmüll, zwischen alten Toilettenschüsseln und kaputten Türen, ich sollte einen Holzverschlag in meinem Kopf visualisieren, zwei ähnlich situierte Bretter aus hunderten verschiedenartigen gedanklich zusammenschrauben und eine Konstruktion zaubern, die unser Feuerholz trocken durch den Regen bringt, der ab nächster Woche kommen wird. Ich kann nicht. Ich stehe mit meinen Winterhandschuhen neben Nina, ich sitze auf dem Holzberg, untersuche ihn von allen Seiten, hebe Bretter hoch, nehme sie in die Hand, setze sie ab, versuche eine emotionale Verbindung mit dem Holz aufzubauen, der Visualisierungseffekt bleibt aus. Ich hatte schon in der Grundschule Probleme mit Würfelnetzen, ich bin so praktisch veranlagt, wie ein Stein. Ich möchte gerne erzählen können, dass ich einen Holzverschlag gebaut habe. Dass ich das Holz gehackt habe, ganz alleine, dass ich den Baum gepflanzt habe, der sekundär zu Feuerholz geworden ist. Ich kann nicht. Aktuell sind acht Freiwillige hier. Sieben scheinen geeigneter als ich, für diese Aufgabe. Ich ziehe meine Handschuhe also aus und versuche zu akzeptieren, dass jede*r andere Stärken hat. Und dass man nicht alles können kann. Ich beruhige meinen kindlich-trotzigen Ehrgeiz und mein Holzfäller-Herz, indem ich verspreche, irgendwann einen Kettensägenführerschein zu machen - vielleicht, möglicherweise – setze mich fernab von dem Holztrubel auf den Boden und mache das mit meinen Händen, was sie am Liebsten tun. Schreiben.
Heute ist Sonntag. Obwohl das eigentlich egal ist, jeder Tag im Camp ist ein Arbeitstag, Flucht kennt kein Wochenende, will ich schreiben, obwohl der Pathos dabei lachend vom Holzberg kracht. Nach der Erfahrung in der Zeltstadt vergangene Woche fällt es mir schwer, über das Leben hier zu berichten. Ich fange an, mir einen Alltag aufzubauen, gestern habe ich gesagt, dass ich ‚gleich nach Hause komme‘, und habe das Camp gemeint. Jeder Tag ist irgendwie gleich, der Mensch braucht Routine, nur daraus kann er Produktivität schöpfen, so scheint es mir; ist er sonst chronisch damit beschäftigt, das neue Umfeld zu erschließen und sich selbst darin zu definieren. Ich glaube ich habe meinen Platz langsam gefunden – Ich möchte ein paar Momente aus den letzten Tagen teilen, die mich berührt und zum Nachdenken gebracht haben. Mir geht es gut hier. So gut, wie es einem gehen kann, wenn das Thema Flucht permanent im Raum schwebt, wie eine riesige Wolke sauren Regens, sich immer wieder entleerend. Aber so scheint das im Leben immer zu sein. Tschernobyl hat sich auch nicht ausgesucht, über 30 Jahre lang zu strahlen.
„Do you know what’s the difference between a person and a human?“ Ali schaut uns an. Wir sitzen im Kreis, in unserem von Planen geschützten Aufenthaltsraum. Eine rhetorische Frage. Unser Camp-Papa vergleicht die menschliche Spezies mit anderen Existenzen. Olivenbäume zum Beispiel, sind dazu da, Oliven zu entwickeln und Menschen und Tiere satt zu machen. Sie haben einen Nutzen für die Natur. Das könne man übertragen, auf sämtliche Lebewesen. Nur nicht auf den Menschen. Er würde essen und trinken und Spaß haben, ein Leben, das auf seinen eigenen Nutzen ausgerichtet ist, während er die Umwelt zerstört. Dabei beschwert er sich noch, über das anstrengende Leben, ein großes Haus putzt sich nicht von alleine und die Milch im Supermarkt wird auch immer teuer. Er liegt in der Badewanne, die Badessenz passiv-komfortable Opferhaltung vermischt sich mit Frust und Wut, besser wird’s nicht, sagt er, während der Sonntagsbraten im Ofen schmort. „What do we do, to give a benefit to this world?“ Unser Schweigen beantwortet die Frage, auch wenn Verallgemeinerungen nicht in Ordnung sind, hat er grundlegend Recht. Nichts. IMECE, die Organisation, die das Dorf hier errichtet hat, gibt es seit fast sechs Jahren. Ursprünglich war es als eine Initiative gedacht, Menschen zu helfen, die sich nicht selbst helfen können, die durch das System fallen, eine Rettungsdecke für gestrandete Existenzen. 2015, erzählt Ali, kamen so viele Menschen nach Cesme, kaum vorstellbar, die Masse an Geflüchteten, sagt er, während er sich am Kopf kratzt. Die griechische Insel Chios ist nur wenige Kilometer von hier entfernt, Syrerinnen und Libanesen und Irakerinnen und Jemeniten, alle wollten über die Türkei nach Europa. Die Prioritäten haben sich also verschoben, Geflüchtete wurden mit Nahrung versorgt, mit Medizin, mit Klamotten. Ali stottert ein bisschen, während er redet. Er knetet seine Hände, man spürt, wie sehr ihn die Zeit geprägt hat. Gebrochen, vielleicht. Er aktiviert Bilder in unseren Köpfen, die wir aus den Medien kennen. Alan Kurdi, der tote Junge mit dem roten T-Shirt, am Strand von Borkum, Ali hat hunderte Alan Kurdis aus dem Meer gezogen. Mir wird schlecht bei dem Gedanken. Wasserleichen gehören in Horrorfilme, nicht an Urlaubsstrände. Es ist nicht möglich, Existenzen zu vergleichen: Erinnerungen an verschwommene WG-Abende mit viel Alkohol brettern durch meine Gedankenbahnen. Was habe ich 2015 gemacht? Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich das anfühlt. Ali ist ein unsichtbarer Superman. Und ich spüre, wie er mit sich kämpft, während er redet. Yusuf weint. Yusuf hätte auch ein Alan Kurdi sein können, oder Alan ein Yusuf. Ich blinzele. Der feuchte Tränenschleier vor meinen Augen lässt Ali verschwimmen. Menschen sind gestorben, sagt er, weil sie keinen Akku mehr hatten, um Standorte zu verschicken, oder SOS-Signale, Hilferufe. Sie sind stumm ertrunken. Ich schüttele den Kopf und denke an die Menschen, die sich beschweren, dass Geflüchtete ein Telefon besitzen. So schlecht kann es den Männern doch gar nicht gehen. Sie haben sogar ein Handy. EIN HANDY! Liebe Menschen, ein Handy ist weder Schwimmweste noch Butterstulle. Es macht nicht satt und rettet kein Leben. Wenn man alles verloren hat, dann ist es das Mindeste, dass man hören möchte, ob Kind und Frau, Mann und Mutter noch am Leben sind. „That’s why we started the EFE project“, sagt Ali. Seine Stimme ist fester. Er ist stolz auf EFE. Energy for Everyone. Hier wurzelt die Idee des Dorfes, ein Lebensrettungs-Nährboden: Wenn Menschen solarbetriebene, wasserfeste Powerbanks besitzen, dann sind sie immer erreichbar, können geortet, vielleicht gefunden werden. Schöne Idee, denke ich, während ich mich frage, wie diese Menschen an die Produkte kommen sollen. Ali redet weiter. Wenn irgendwann der Krieg aufhört, und die Menschen zurück in ihre Heimat können, dann wird alles zerstört sein. Keine Elektrizität, kein Leben. Die im Dorf ausgebildeten Frauen besitzen dann das nötige Know-how, um zu installieren, was zerstört wurde. „Women are our future“, sagt er. Ich denke an die Trümmerfrauen 1945. Krieg scheint mir wie eine Uhr, dessen Zeiger aus Ländergrenzen gegossen sind. Eine Uhr, die sich sehr langsam bewegt. Aber sie bewegt sich, irgendwo ist immer 12. „A better word is possible“, sagt er, und hört sich an wie Ghandi, während er versucht, uns das Vertriebssystem zu erklären. Die Frauen bauen auch solarbetriebene Spielzeuge, gießen Kerzen und malen Bilder, die in Europa verkauft werden sollen. Ein soziales Start-Up. Projekte wie diese gibt es wie Geflüchtete auf der Balkanroute. Armbänder aus Äthiopien reihen sich neben Handtaschen aus dem Iran, in stilvollen Ausstellungsräumen in Berlin. Die Idee ist schön, Hilfe zur Selbsthilfe ist wichtig, unternehmerisch ist das Projekt schwer umsetzbar. Wie macht man sich einzigartig, auf einem Markt, der übersättigt ist von technischen Innovationen? Zwei Tage später sitzen Nina und ich in der Sonne. Nischenstrategie, schreibe ich, während eine der Baby-Katzen auf die Tastatur meines Laptops springt. Und hier bin ich, an der Westküste der Türkei, und schreibe einen Bussiness-Plan, um Investoren zu finden, für ein Projekt, dass geflüchteten Frauen eine selbstbestimmte Zukunft ermöglichen will. Verrückt, sage ich zu Nina. Sie malt ein Fragezeichen hinter Wertschöpfungskette und nickt.
Zwischenwelt
„Raki?“ Sali schaut mich an, seine grauen Haare locken sich unter dem roten Kopftuch, seine Haut ist gebräunt. Ich nicke, er schüttet eine klare Flüssigkeit aus einer Plastikflasche in ein Glas. Şerefe, sagt er und strahlt, wir verstehen uns nicht, aber wir könnten uns nicht besser verstehen. Ich beiße in eine saure Gurke und schaue mich im Raum um. Nina sitzt neben mir, ansonsten kenne ich niemanden. Heute ist Sevilles Geburstag. Seville und Sali sind ein pensioniertes türkisches Paar, die im Dorf arbeiten. Sie hauchen dem Dorf Herz ein, indem sie einfach da sind. Gute Seelen und reine Herzen brauchen kein Wörterbuch, denke ich, während ich auf dem Teppich in Salis Wohnung sitze und esse. Seville hat Geburtstag und hat Nina und mich eingeladen, nach der Arbeit mit zu ihnen zu kommen. Ich bin überrascht und glücklich. Ich habe seit zwei Wochen kein Haus mehr von innen gesehen. Wir nehmen Yasmine und Mutea mit, wir sitzen zu acht in einem Auto, das für fünf Personen schon viel zu klein ist. Mutea hüpft auf meinem Schoß hin und her und spielt mit meinen Haaren. Kulturelle Unterschiede werden überall spürbar, Brandschutz und Verkehrssicherheit scheint es nicht zu geben, aus deutschen Augen. Wir fahren am Meer vorbei, das so blau in der untergehenden Sonne glitzert, dass ich sofort reinspringen will. Die Mädchen sind aufgeregt. Ich frage mich, wie komisch es sein muss, ein echtes Haus zu sehen. Plastikspielzeug, statt Steine und Holz, einen Fernseher, ein eingenes Zimmer. Rashid, Sheia und die drei Kinder schlafen zu fünft in einem Raum ohne Möbel und ohne Strom. „Total reizüberflutet“, sagt Nina, als wir uns auf die lila Sofapolster fallen lassen, unsere Hosen sind dreckig, werden wohl nie wieder sauber, von der Arbeit auf dem Feld und dem hiesigen Staub überall, als wir die syrischen Mädchen beobachten. Sie bewegen sich in der Wohnung wie Tiere, die in ein fremdes Habitat gesetzt wurden, ich will einen Zoo-Vergleich machen, aber ich frage mich gerade, ob das Haus der Käfig ist, oder das Dorf. Mutea wühlt in der Plastikkiste, die berühmte Spielkiste, die in jedem Kinderhaushalts-Wohnzimmer steht. Sie holt eine rosa Bürste raus, kämmt sich die Haare, schmeißt sie zurück, holt ein Buch raus, setzt sich auf ein Spielzeugauto, fährt durchs Wohnzimmer, knallt gegen die Couch, springt auf die Couch, springt auf der Couch, setzt sich auf die Couch, starrt in den Fernseher, Masha der Bär fesselt sie, das quadratische Kinderbeschäftigungsinstrument. Yasmine setzt sich daneben. Die beiden starren und blinzeln nicht mehr. Sie gucken anders Fernsehen, als Kinder, die mit Fernsehen aufwachsen, wie mit Karottenbrei. Ich bin traurig in diesem Moment. Nicht wegen des Fernsehens. Ich bin traurig, weil mir der Kontrast zwischen geflüchteten Kindern und in Frieden Aufwachsenden in diesem Moment so klar wird. Kinder passen sich an, Kinder können das, Kinder kennen keine anderen Verhältnisse. Schwierig wird es, wenn sie eine Kinderwelt in Frieden kennenlernen, wenn sie die Ungerechtigkeit der Welt spüren, in Form von Spielekisten und TV-Serien, in Form von Wohnzimmern und Elektrizität als Normalität. Ich bin traurig, weil ich gerade zwischen den Welten stecken und mich verloren fühle, weil ich zu der einen gehöre, während ich mich immer mehr mit der anderen verbunden fühle. Das Wohnzimmer fühlt sich wie ein Käfig an, während der Fernseher Yasmine und Mutea betäubt.
Es ist Montag. Ich habe es nicht geschafft, den Text gestern fertig zuschreiben. Es war so kalt gestern, dass mir die Finger beim Schreiben wehgetan haben. Es ist eisig in meinem Container, wenn die Sonne untergeht, und ich habe Angst vorm Winter. Heute war ein guter Tag. Jeden Tag mache ich hier Dinge zum ersten Mal und dabei frage ich mich jeden Tag, warum das so selten in meinem deutschen Alltag passiert. Wie sollen sich Horizonte erweitern, wenn die Komfortzonen-Couch so bequem ist? „Permaculture“, sagt Lucy und schaut in die Runde. Wir frühstücken, Ali hat heute Brötchen mitgebracht, wir essen die Eier von unseren Hühnern und Wassermelone vom Feld. Wir unterhalten uns über die Landtagswahl in Thüringen, die deutsche Politik fühlt sich so weit weg an gerade. „Anyone?“ Wir schütteln die Köpfe. Ich weiß nicht mal genau, was Permaculture ist. Zwei Stunden später sitzen wir unter den leer geernteten Olivenbäumen auf dem Boden, sammeln Steine: Brocken und Steinchen, graben Gräben, 30 Zentimeter tief, rühren Zement an, bauen eine Mauer aus Steinen. Präventiv gegen Regenwasserflüsse in der Mitte des Olivenhains. Wassersammelstellen für Beete, die wir noch anlegen werden. Bald können wir uns selbst versorgen, denke ich, und ich spüre, dass mir das Dorf ans Herz wächst. Ich lerne zementieren, nach mehreren Schubkarren habe ich die perfekte Mischung aus Wasser und Sand und Zement gefunden. Die Katzen springen um uns herum, die Sonne scheint, später werden wir einen 20.000 Liter Wasserkanister abgeholt haben. Verrückt, sage ich zu Nina und sie lacht.
Während ich das schreibe geht die Sonne unter. Es ist kalt, aber ich habe mich dagegen entschieden, mich über das Wetter aufzuregen. Du wusstest das vorher, sagt meine Freundin. Ich weiß. Ich sitze also auf der Bierbank, eingepackt in Mütze und Schal, ich trinke Tee und warte. Wir alle warten auf die große Lieferung, die vor vier Stunden ankommen sollte. Wir warten auf 700 Kilogramm Lebensmittel, die wir diese Woche in verschiedenen Camps verteilen werden. Wir sind alle ein bisschen nervös – hoffentlich kommt der Laster überhaupt. Wir werden ihn im Dunkeln ausladen müssen, Linsen und Reis und Olivenöl verpacken wir morgen früh. Ich bin gespannt, wie ich die Camps jetzt wahrnehme. Ich möchte versuchen in den nächsten Tagen mehr und detaillierter zu berichten. Es fällt mir manchmal nicht leicht, meine Gedanken zu verarbeiten, meine Eindrücke stecken noch immer im Verarbeitungsstau. Es gibt noch so viel mehr zu berichten. Ich möchte über die Sportgruppe erzählen, die Nina und ich gegründet haben, die sich jeden Morgen um 7:30 Uhr trifft und Sport macht. Ich möchte über meine Katzenphobie berichten, die ich jeden Tag gezwungen werde zu bekämpfen, die Katze, mein Endgegner. Beim Yoga legen sie sich auf meinen Bauch, ziehen an meinen Haaren und an den Bändern meiner Sporthose, beim Arbeiten springen sie auf die Werkzeuge, beim Schreiben auf den Laptop, beim Essen auf den Tisch. Ich lerne, dass man sich an alles gewöhnen kann und alles weniger schlimm ist, wenn man es annimmt. Scheinwerferlicht strahlt durch die Bäume, unsere Lieferung kommt. Ich ziehe mir die Mütze tiefer ins Gesicht. Ich habe noch nie einen LKW ausgeladen. In der Türkei. Bei Nacht. Nina und ich lächeln uns an. Verrückt, sagt sie und ich nicke.
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