„Asyl oder IS“, sagt Rashid und schaut auf seine Hände. Unter den Fingernägeln kleben Olivenreste, so schwarz wie seine Zähne. Wir schauen betreten auf den Boden, Haruna, Cecil und ich. Das Stroh pickst durch meine Sporthose, eine Spinne klettert über meinen Schuh. Rashid dreht sich eine Zigarette, wir trinken Chai. Am Horizont können wir die Stadt Cesme erahnen. Wir sitzen auf den Feldern neben unserem Camp, Olivenbaum grenzt an Olivenbaum, es ist Olivenzeit in der Türkei. Seit Stunden sitzen wir auf dem Boden zwischen tausenden Oliven, wir sind Ameisen, schnell und gründlich, 300 Kilogramm Oliven sammeln sich nicht von alleine. Warum pflückst du denn Oliven, höre ich meine Mutter sagen. Ich dachte du versorgst Flüchtlinge, kranke Frauen, hilfsbedürftige Kinder, machst etwas Sinnvolles. Stereotyp Flüchtlingshilfe. So dachte ich auch, die letzten Tage und habe Frust gespürt, weil die Arbeit sich vollkommen anders gestaltet, als ich mir das vorgestellt habe. Als sich meine westliche Arroganz und mein Helfersyndrom, von den Medien getriggert und das Thema Flucht vollkommen verschoben asoziiert, sich das vorgestellt haben. Was ich in den letzten vier Tagen gelernt habe: Flucht ist langatmig und schwerfällig und ganz anders, als das mediale Bild es zu vermuten lässt. Flucht ist auch, tote Kinder am Strand, Wärmedecken und Schwimmwesten, Durchfall und Hunger, aber eben nicht nur.
 

„Entschuldigung für Arbeit“, sagt Rashid, 32, Syrer. Wir sitzen unter dem gleichen Baum in der Sonne. Wir sitzen nebeneinander, während uns Welten trennen. „Kein Problem“, sage ich vorsichtig und fühle mich schlecht, weil er sich schlecht fühlt, uns Arbeitsanweisungen zu geben. Wir pflücken erst stumm, weil ich so viele Fragen habe, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Ich will nicht unhöflich sein. Rashid scheint meine Unsicherheit zu spüren. Er fragt mich, ob ich die deutsche Stadt Erlangen kenne. „Freunde“, sagt er. Und erzählt mir von seiner Zeit in Deutschland. Zwei Jahre habe er in Stuttgart gelebt, nachdem er aus Syrien geflohen ist. Er konnte seine Familie nicht nachholen, weil das Gesetz zum Familiennachzug eine Obergrenze von 1000 Menschen pro Monat vorsieht. Das sagt er so nicht, aber ich erinnere mich an all die bunten Plakate und Seehofers Werbung für friedliche Rückführungen, die Berlin letztes Jahr geziert haben. „Ganz alleine im Krieg“, sagt er und schmeißt Oliven in den Eimer. Ganz alleine, damit meint er seine Frau, seine beiden Töchter und den damals ungeborenen Sohn. Ich beiße mir auf die Lippen, so doll, dass es schmerzt. Ich möchte sagen, dass es mir leidtut, aber kein Wort der Welt kann den Schmerz ausdrücken, den ich spüre. Familiennachzug hat jetzt ein Gesicht, das Rashid heißt. Er habe sich das Schienbein gebrochen, als er zurück in die Türkei gegangen ist. Er zeigt mir ein Foto von sich im Rollstuhl. Rashid ist 32 Jahre alt. Befreundete Männer in diesem Alter fangen gerade an, über die Familienplanung nachzudenken, kaufen vielleicht ein Haus, oder einen Hund. Auf dem Bild sehe ich einen gebrochenen Menschen, der so viel Schmerz gespürt hat, dass auf einem anderen Planeten Blumen sterben. Ich nicke nur und zerquetsche eine Olive zwischen meinen Fingern. Das war vor fast zwei Jahren. Sheiha, Yasmin und Mutea haben es in die Türkei geschafft, Yusuf wird geboren, die Familie zieht in das Dorf. Und hier sind wir, Rashid und ich, auf einer Olivenplantage im türkischen Nirgendwo, und pflücken gemeinsam Früchte, als hätten wir nie etwas anderes getan.

Es fällt mir schwer, über das Thema zu schreiben, dass alle Schichten und Systeme tangiert und dass auf so vielen Ebenen zu adressieren ist. Ich möchte hier etwas von der Persönlichen teilen, die ich jeden Tag erlebe. Das Dorf, in dem ich wohne, arbeitet mit dem Barefoot-College zusammen, einer Bewegung aus Indien, dessen Philosophie ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ ist. Der Fokus liegt auf geflüchteten Frauen. Alle, die Interesse haben, dürfen das Dorf für eine Zeit besuchen und werden zu ‚Solaringeneurinnen‘ ausgebildet. Die Frauen lernen, Power-Banks zu bauen, langfristig sollen sie davon leben können und sich mit dem Selbstbewusstsein Geld verdienen zu können, von sämtlichen Abhängigkeiten emanzipieren. Und bestenfalls tatsächlich davon leben. Schöne Idee, sage ich beim Frühstück zu Nina, als sie mir das Projekt erklärt. „Schwierig umzusetzen“, sagt sie. Viele Frauen in den Zeltstädten, die wir regelmäßig versorgen, wollen das Angebot nicht annehmen. Unser Dorf bietet Platz für fast ein Dutzend Frauen. Seitdem ich hier bin, ist niemand da. Ich verstehe das System der Rekrutierung noch nicht und das langfristige Vertriebskonzept ist mir ebenfalls ein Rätsel. Ich verstehe die Barefoot-Idee und teile die Meinung, dass Hilfsgüter punktuell am Wichtigsten sind, langfristig aber nicht helfen, weil sie Abhängigkeiten schaffen. Aber möchte man eine Powerbank bauen, wenn man Hunger hat? Ich bin gespannt, wie sich das Projekt entwickelt, während ich hier bin und ich bin gespannt, inwiefern sich die Erwartungen und Wünsche der Frauen mit der Vision des Projekts decken.

Und warum pflückst du Oliven, Kind? Weil wir Öl brauchen, Mama. Und weil wir Geld brauchen.

„Wer spendet kaputte High-Heels?“ Nina, Cecil, Silke, Haruna und ich sitzen vor unserem Warehouse auf dem Boden, zwischen Kisten und Tüten, bis zum Rand gefüllt mit Schuhen, und versuchen, Paare zu finden. Wir sind ein Schuhgeschäft. Woher kommen die Schuhe, frage ich. Spenden. Ich wühle also stundenlang in Käsebergen, spiele Memory. Wir versuchen, kaputte Schuhe zu reparieren. Ich drehe einen roten High-Heel in meiner Hand. Vielleicht macht er irgendeiner Frau eine Freude, denke ich und klebe mit Tesa die passenden Schuhe zusammen. Größe 38, schreibe ich darauf. Wir brauchen Gummistiefel und Boots, der Winter kommt. Wir haben Sandalen und High-Heels. Große Größen gibt es kaum. Sollen Männer ab Schuhgröße 45 sich die Zehen abschneiden? Und stapfen Frauen in Keilsandaletten über die Balkanroute? Ich werde wütend, während ich die Schuhe zusammenbinde. Einige lassen sich nicht mehr reparieren, die Schuhe fallen auseinander. Die Spendenmentalität ist der Gipfel hypokritischen Gutmenschentums, denke ich. Spenden und sich gut fühlen. Viele Sachen die hier ankommen, sind ungewaschen und kaputt. Das sind keine Spenden, das ist Müll. Geflüchtete sind Menschen, keine Tiere. Es ist respektlos, nicht großherzig, Dinge wegzugeben, die man wegwerfen würde. „Ein einziges paar Gummistiefel“, sagt Silke und schüttelt den Kopf, während sie den gelben Kinderstiefel in der Hand dreht. In zwei Monaten ist Winteranfang.

„For you“, sagt Yasmin und legt mir eine Kette um den Kopf. Bunte Perlen, teşekkür, sage ich und umarme das Mädchen. Meine nicht vorhandenen Türkischkentnisse werden zum Problem, mit den Kindern lerne ich ein bisschen, mit den türkischen Frauen, die hier arbeiten, kann ich mich nicht verständigen. Yusuf schreit. Ich nehme ihn auf den Arm, Babysprache spreche ich fließend. Ich strecke ihm die Zunge raus, er lacht und schlägt seine kleinen Hände zusammen. Wir gehen in den Hühnerstall und sammeln Eier. Jeden Tag entweder 10 oder 15. Yusuf wurde in der Türkei geboren, er soll nach Deutschland, irgendwann, sagt Rashid und scherzt, dass ich ihn mitnehmen kann. Ich erwische mich, wie ich tatsächlich darüber nachdenke, ich möchte die ganze Familie mitnehmen, ich habe sie jetzt schon richtig in mein Herz geschlossen. Yusuf spielt mit meiner neuen Kette. Meine Perlen sind aus Holz, ich hatte noch nie ein schöneres Schmuckstück. Wir spazieren durchs Dorf, vorbei an den Katzen, die sich hier so schnell vermehren, als würden sie nur dafür geboren worden sein. Gestern habe ich 18 gezählt. Die Sonne geht unter, als ich Yusuf in die Küche trage. Rashid sitzt auf dem Boden und rollt Teig. Fataja, sagt er. Ein Teigfladen aus Mehl, Öl und Yoghurt, der mit Sesamsoße und Käse gegessen wird. Sobald die Sonne untergeht, ist es kalt hier im Camp, und es ist erst Oktober. In den ersten Tagen habe ich das starke Bedürfnis, mich in einen Raum zu setzen, in dem es eine Heizung gibt, in ein Bett zu legen, unter eine Decke, ein Badezimmer zu benutzen. Das Leben hier findet draußen statt. Ich teile mir einen Container mit Nina. Wir schlafen in Stockbetten. Nachts bin ich froh über meinen Daunenschlafsack. Es ist nicht leicht für mich. Es ist nicht leicht, zu duschen, wenn die Sonne nicht geschienen hat und es kein warmes Wasser gibt. Es ist nicht leicht, draußen zu leben, keine Privatsphäre zu haben und keine wirkliche Aufgabe. Ich vermisse meine Decke und eine Badewanne, ich will ins Fitnessstudio und essen, was ich will und kuscheln mit wem ich will und meine Klamotten auspacken und eine richtige Toilettenspülung und keine Katzen mit Würmern, schreibe ich an Tag 1 in mein Tagebuch. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass ich ein zu Hause habe, in das ich zurückkehren kann. Dass ich auf Zeit hier lebe und dass ich mir bewusst ausgesucht habe, hier zu sein. Wenn das wichtigste, was ich gerade tun kann, Olivenpflücken ist, weil es uns Olivenöl schenkt, dass uns und die Frauen und Kinder satt macht, dann ist das eine gute und wichtige Aufgabe. Flucht ist nicht temporär. Flucht ist keine Extremsituation. Flucht ist für Millionen Menschen Alltag. Ein Cocktail aus Ungewissheit, Kälte, Hunger, Aufenthaltsgenehmigung, Sprachbarrieren und Familiennachzugsgesetzen. Als Rashid mir die türkische Aufenthaltsgenehmigung zeigt und strahlt, drücke ich Yusufs kleinen Kinderkörper ganz fest an meine Brust. Flucht ist auch Olivenpflücken und Fataja essen und gemeinsam Chai trinken. Cecil kommt aus Frankreich, Harun aus Japan, Nina und Silke sind deutsch. "Niemand will uns", sagt Rashid an Tag 1. Wir alle würden dich mitnehmen, Rashid, wenn wir könnten, weil du gewollt wirst und wichtig bist. Nicht weniger, als ich oder Nina oder Harun oder irgendwer. Hier merke ich so deutlich wie nie, wie unterschiedlich gleich wir alle sind, der Baukasten Mensch.
 
Ländergrenzen sind verrückt, warum gibt es Staaten, wann funktioniert weltweiter Pazifismus.
Ich klappe mein Tagebuch zu. 
Vielleicht kommen morgen ein paar Frauen.
Und ein paar Kinder.
Vielleicht pflücken wir morgen wieder Oliven.
Und vielleicht ist alles anders. 
Iyi Geceler.

1 Comment

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  • Tabi  
    Danke dir für diesen Blog, Chrissi - da wir hier in Deutschland das Glück haben, das Leben auf der Flucht nicht zu kennen, leistest du damit wirklich einen wichtigen Beitrag zum Verständnis und ich bin dankbar, noch weitere deiner Eindrücke kennenzulernen. Drück den kleinen Yusuf von mir.

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